Übers Wasser gehen (Mt 14,23-32)

Diese Textstelle von Jesus und Petrus auf dem Wasser habe ich viele Jahre lang ausschließlich unter dem Aspekt der Unsicherheit und Angst gelesen. Petrus wagt den Schritt auf das Wasser. Erst geht alles gut, doch dann wird er sich der Böen von links und rechts bewusst, wird unsicher und beginnt unterzugehen. Die Botschaft der Bibelstelle für diese Lesart ist klar: Hab Vertrauen! Lass Dich von Deinen Zweifeln nicht hinunterziehen. Denn „Jesus streckte sofort die Hand aus und ergriff ihn“. In Gottes Hand bist du geborgen, auch wenn die Zeiten um Dich herum stürmisch sind.

Es gibt für diese Textstelle aber noch einen anderen Aspekt. Nämlich die Frage, warum Jesus – anders als sein Jünger – problemlos über das Wasser laufen kann. Es stürmt um ihn herum ja nicht weniger. Die Antwort „Na, das ist halt Gottessohn“ ist naheliegend. Ebenso sein tiefes Vertrauen in Gott-Vater, der ihn schützt und hält. Und ja: Im Laufe der Jahre sind natürlich auch jede Menge Witze und scherzhafte Erzählungen zusammengekommen in der Art „Er wusste, wo die Steine liegen“.

Die Kraft des Alleinseins

Doch die Stelle im Matthäus-Evangelium bietet einen anderen Ansatz, der mir selbst erst bei einer Bibelstunde spätabends am See Genezareth – also am historischen Ort des Geschehens – bewusst wurde. Bevor Jesus sich nämlich auf den See begibt, zieht er sich zurück. Er schickt alle weg, um „für sich allein zu beten“. In einer anderen Übersetzung heißt es: „Dann ging er auf einen Berg, um ungestört beten zu können. Bei Einbruch der Nacht war er immer noch dort, ganz allein.“ Und im Johannes-Evangelium steht zur selben Szenerie geschrieben: „Daher zog er sich wieder auf den Berg zurück, er ganz allein.“

Was hat es mit diesem Alleinsein auf sich? Allein ist doch doof. Doch das muss gar nicht stimmen. Wenn jemand allein ist, ist das zunächst einmal eine objektive Beschreibung der Anzahl an Personen in der unmittelbaren Nähe. Allein heißt: Da ist niemand anderes physisch anwesend. Wer sich hingegen „allein gelassen“ oder „verlassen“ fühlt, fühlt sich oft einsam. Einsamkeit ist aber etwas anderes als Alleinsein. Diese feine Unterscheidung ist mir in Zusammenhang mit dieser Bibelstelle einmal besonders deutlich geworden.

Einsamkeit ist keine objektive Situations-Beschreibung, sondern ein Gefühl. Es gibt Menschen, die können ganz wunderbar allein sein und empfinden sich dabei nicht als einsam. Ganz im Gegenteil. Menschen, die während der Woche viel Trubel erleben, oft in Teams arbeiten, viele Gespräche führen, viele Meetings, dauernde Geräuschkulissen… die genießen einen Moment für sich allein. Weil sie sich nach anstrengenden Stunden und umgeben von zahlreichen Menschen erst einmal wieder erden müssen. Sie wollen in Ruhe Kraft tanken.

Jesus tankt Kraft im Alleinsein. Geht das nicht vielen von uns so? Weihnachten, Silvester, Ostern, Geburtstage… Wir feiern gerne, wir freuen uns über Besuch. Aber irgendwann ist es auch mal gut. Dann wollen wir unsere Ruhe haben, uns zurückziehen und allein sein. So wie es zum Beispiel auch im Markus-Evangelium heißt: „In aller Frühe, als es noch dunkel war, stand Jesus auf und ging an einen einsamen Ort, um zu beten. Simon und seine Begleiter eilten ihm nach, und als sie ihn fanden, sagten sie zu ihm: Alle suchen dich.“ (Mk 1,35-38) Es mutet fast wie eine Flucht an. Begeistert umringt von den Menschen, die in der damaligen Zeit von römischer Besatzung und Ungerechtigkeit all ihre Hoffnung in ihn setzen, muss Jesus eine Auszeit nehmen. Er zieht sich zurück, um zu beten und Kraft zu sammeln.

Vertrauen und Kraft in stürmischen Situationen

Eine Bekannte von mir nennt das ihren „Oasentag“. Einfach mal allein raus in die Natur oder ins Kloster. Nur für sich und mit sich. Kein Lärm, keine Menschenmassen um einen herum, keine Gespräche, keine Diskussionen. Andere nennen es einen „Dreamday“: raus aus dem Alltag, aus den laufenden Projekten und Verpflichtungen. Rein ins Nirgendwo. Träumen. Zur Ruhe kommen. Sich sammeln, sich erden. Das macht Jesus. Und das macht ihn stark im Vertrauen auf Gott und im Vertrauen auf sich selbst. Dann kann er problemlos übers Wasser gehen. Petrus hingegen, der ohnehin schon aufgeregt ist durch die im wahrsten Wortsinn stürmische Situation, verliert das Vertrauen und versinkt.

Allein sein und einsam sein sind keine Synonyme. Das müssen wir uns klar machen, und das ist nicht immer einfach. Viele Menschen sehnen sich nach dem Alleinsein als Erdung und Auftanken, erleben es dann aber oft als Qual. Vom österreichischen Schriftsteller Thomas Bernhard ist das Zitat überliefert: „Ich sehne mich immer nach dem Alleinsein. Aber bin ich allein, bin ich der unglücklichste Mensch.“

Allein und einsam zu vermischen oder jedenfalls emotional als negativ wahrzunehmen, mag auch mit unserem Verhältnis zu uns selbst zusammenhängen. Jesus ist im Moment des Alleinseins ganz bei sich. Wenn wir in solchen Momenten jedoch an das denken, was sein könnte – Treffen mit Freunden, gute Unterhaltung, Leben um mich herum, sprich: Sehnsüchte – dann empfinden wir Alleinsein nicht als Kraftquelle, sondern ganz im Gegenteil als Verlust. Es bleibt also die Aufgabe mich wie beim Meditieren ganz auf mich zu konzentrieren und das mentale und physische Durchatmen als etwas Belebendes und Befreiendes wahrzunehmen.

Solche Auszeiten – empfunden als Ladestation für den inneren Akku – brauchen wir vermutlich alle. Um es mit Albert Einstein zu sagen: „Die Monotonie und Einsamkeit eines ruhigen Lebens stimuliert den schöpferischen Geist.“ Wir müssen dann nicht gleich übers Wassern gehen. Aber in der Bibelstelle aus dem Matthäus-Evangelium nicht nur die Unsicherheit und Angst zu sehen, sondern das Krafttanken und Fokussieren auf den Moment, das kann eine Oase sein. Eine Lebensquelle.

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